Persönliche Erfahrungen

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Als Kind war die Lokomotive in meiner Gegend kaum mehr anzutreffen. Da gab es BDe 4/4 und Re 4/4 II vor den Reisezügen und im Güterverkehr regierten Ae 4/7.  Re 4/4 I hatten da keinen Platz und der Regionalverkehr wurde mit Triebwagen oder Re 4/4 II erledigt. So kannte ich die Lokomotive nur von meinen Ausflügen und natürlich anhand des Modells von einem deutschen Hersteller. Damit kannte ich die Lokomotive aber nur sehr oberflächlich.

Doch das änderte sich, als ich bei den schweizerischen Bundesbahnen SBB meine Stelle als Lokführer Anwärter antrat. Viele Entscheidungen führten so sehr schnell zur Re 4/4 I. In der Woche, wo wir unsere Unterlagen bekamen, war auch ein kleines blaues Buch mit der Bezeichnung R 430.1 dabei. Der Titel war deutlich Elektrische Lokomotiven Re 4/4 I 10001 – 10050. Zumindest auf dem Papier war die Lokomotive nun präsent.

Zu diesem Zeitpunkt waren die Re 4/4 I mit ihren Pendelzügen aber auch das tägliche Bild im Regionalverkehr am Gotthard und damit im Raum Erstfeld. Doch zuerst machten ich und meine Kollegen noch einen Bogen um die Lokomotive, denn bei uns in Erstfeld wurde keine Re 4/4 I unterhalten. Das bedeutete, dass wir kaum mit der Lokomotive in Berührung kamen. Wir wussten jedoch, dass der Tag kommen wird, wo wir in einer solchen Lokomotive sitzen würden.

Das ging dann schnell, denn wir durften sehr schnell auf die Strecke und nahmen auf der Re 4/4 I unseren Platz als Heizer ein. So lernten wir einige Besonderheiten über die Lokomotive kennen, die mich aber noch nicht sonderlich faszinierten, denn ich sollte ja die Strecke kennen lernen. Die Lokomotive fuhr und ich hatte noch keine Aufgaben zu erledigen. Die Tage vergingen so und immer wieder war auch eine Re 4/4 I dran. Nur fahren durfte ich damit noch nicht.

Bei der Schulung der Lokomotiven kam natürlich auch die Re 4/4 I an die Reihe. So lernten wir in Luzern die Lokomotive kennen und wussten nun, wie Schäden zu beheben waren. Sogar die Türe des Überganges öffneten wir und die Dachleiter auszuklappen und so auch diese Handlung kennen zu lernen. Die Wirkung der Explosionsklappe lernen wird ebenso kennen, wie der Hinweis, dass die ersten vier Stufen zügig zu schalten seien.

Für uns bedeutete das aber auch, dass wir ab sofort die Re 4/4 I auch bedienen durften. Zuerst natürlich noch im Rangierdienst und nur die alleine fahrende Lokomotive. So waren die Fahrten mit der Re 4/4 I bei mir recht selten der Fall, denn wenn wir rangierten, war der Pendelzug an der Lokomotive. Erst mit der Erlaubnis auch mit Wagen rangieren zu dürfen, führte zu den ersten Handlungen mit einer Re 4/4 I.

Als dann die Ausbildung so weit fortgeschritten war, dass ich auch auf der Strecke mit Zügen fahren durfte, kam der Tag mit der Re 4/4 I. Genau genommen war es der erste Tag, an dem ich offiziell eine Lokomotive auf der Strecke bedienen durfte. Das war bei mir ein Regionalzug mit Re 4/4 I und erst noch vom Steuerwagen aus. Natürlich schob eine Re 4/4 I den Zug von Erstfeld nach Göschenen. Doch die helfenden Hände des Ausbildners brachten mich nicht so ins Schwitzen, wie ich befürchtet hatte.

Je mehr ich mit diesen Zügen über den Gotthard fuhr, desto besser lernte ich die Lokomotive im Betrieb kennen. Natürlich war da eine gewisse Faszination da, aber hauptsächlich war die Re 4/4 I so gut, dass ich sie immer wieder dem Schrotthändler übergeben wollte. Wenn man dann das Glück hatte in mit dem Re 4/4 I Pendelzug nach Chiasso und zurück zu fahren, wusste am Abend, was er getan hatte. Wobei wir dabei in Bellinzona die Re 4/4 I sahen, die mit den Schnellzügen nach Locarno fuhren.

Die Kollegen in Olten und Basel hatten RBe 4/4 und fanden diese mühsam. Ich musste mich mit einer Re 4/4 und dem Pendelzug immer wieder über den Gotthard kämpfen. Schneite es dann noch, war ich nicht immer überrascht, wenn sich der Bereich hinter der Fronttüre weiss färbte. Nur wer hart war, zog dann noch die Jacke aus. Gefroren hat man aber so oder so. Da war noch etwas besser, wenn man fahren durfte.

Die Leistung der Maschine reichte knapp aus um die Regionalzüge über den Gotthard zu befördern. Die Anfahrten am Berg in Intschi auf der Nordseite und Giornico auf der Südseite waren vor allem im Sommer in den Schulreisezeiten ein Kampf für die Maschine und den jungen Lokführer. Schliesslich hatte man dann die Normallast am Haken der Lokomotive. Oft wurde es aber ein Wettlauf mit dem Beginn des Anfahrens und der Verzögerung des Maximalstromrelais der Fahrmotoren.

Dann hiess es Bremse los und Stufe vier rein. Der Zeiger der Anzeige des Fahrmotorstromes flatterte dann irgendwo im Bereich der gefährlichen Marke herum. Vorsichtig wurde dann die fünfte Stufe zugeschaltet und der Zeiger genau beobachtet. Die Relais hielten und der Zug begann sich zu bewegen. Oftmals kam der Zug nur sehr langsam in Bewegung und der Lokführer nebenan meinte nur, „es fährt in die richtige Richtung, die Anfahrt ist geglückt“.

War die Fahrt den Berg hoch noch einfach und nur ein Kampf gegen das Maximalstromrelais, kam einmal Göschenen und somit der Gotthardtunnel. Der stellte eine Mutprobe für das Lokomotivpersonal dar. Ab einer Geschwindigkeit von 115 km/h brauchte es Mut um den Zug auf die erlaubten 125 km/h zu beschleunigen. Oft hiess es nebenan nur, ob mir der Mut fehle? Natürlich nicht, denn etwas Stolz hatte auch ich und so ging es auf 125 km/h. Der Chef wird ja wohl wissen, was er sagt.

Die Lokomotive schüttelte derart, dass oft das Gefühl aufkam, die Maschine nehme im nächsten Augenblick Anlauf auf die Tunnelwand. Zudem war man nie sicher, ob niemand die Dämpfer ausgebaut hat. Doch es klappte immer wieder und der Zug erreichte Airolo oder Göschenen. Es spielte dabei keine Rolle, ob es die Lokomotive oder der Steuerwagen war. Der war in diesem Punkt nicht besser. Es schüttelte und rüttelte im Gotthard so stark, dass man sich fast fürchten musste. Aber die Lokomotive blieb immer im Gleis. Beim Steuerwagen war ich mir da nie so sicher.

Wer hochfährt, muss auch wieder runter. Die Talfahrt am Gotthard, beanspruchte die Lokomotive ebenso wie das bedienende Lokomotivpersonal. Wer hier mehr ins Schwitzen kam, kann ich nicht mit Sicherheit sagen, aber ein Kampf mit sich selber und der Lokomotive war diese Fahrt dann schon. Auf jeden Fall waren vermutlich die Lokomotive und der Lokführer gleichermassen glücklich, dass sie das Tal erreicht hatten. So ging es los und die erlaubte Bremsstellung am Steuerkontroller wurde eingestellt.

Die elektrische Bremse der Maschine war zu schwach um den ganzen Zug in Beharrung zu halten. Dabei hatte der nur ein paar Tonnen. Die Luftbremsen der Wagen mussten daher mithelfen. So griff ich beherzt zum Führerbremsventil und bremste die Wagen. Die sorgten dann dafür, dass der Zug nicht mehr schneller wurde und so dafür, dass die Höchstgeschwindigkeit nicht überschritten wurde. Die Freude war aber von kurzer Dauer.

Wenn der Zug gebremst wurde, fiel die Geschwindigkeit zusammen. Die elektrische Bremse der Lokomotive vermochte den Zug nun auf der Geschwindigkeit zu halten, nur der maximale Bremsstrom wurde dabei leicht überschritten. So musste die elektrische Bremse wieder abgeschaltet werden, damit der Zug wieder beschleunigte und die Wagen wieder bremsen mussten. Man war also immer irgendwie beschäftigt. Die Bahnhöfe sorgten dann für die nötige Erholung. Der eingebaute Langsamgang hatte bei dieser Fahrweise keine Chance und blieb daher schön ruhig.

Spannend wurde es dann aber, wenn das Zugpersonal freudig meinte „Intschi anhalten“. Dann ging es den Berg runter und vor der Haltestelle wurden die Bremsen der Wagen aktiviert. Der Zug verzögerte und kam am Bahnsteig zum Stehen. Soweit die Theorie, die Bremsen wirkten so schlecht, dass ein paar Meter später die Bremsung eingeleitet bedeuten konnte, dass in Intschi der Gepäckwagen mit seinem Gepäckraum nicht mehr am Bahnsteig stand.

Man hatte somit die Wahl, sich das Leben schwer zu machen und zu versuchen, die maximal erlaubte Geschwindigkeit zu fahren, oder eben die Lokomotive zu quälen, und etwas langsamer den Berg hinunter zu fahren. In beiden Fällen kam entweder der Lokführer oder die Lokomotive ins Schwitzen. Die Fahrzeit reichte für solche Spiele aus.

Beim Lokführer in Form von Schweissperlen an der Stirn, bei der Maschine erkannte man den Sünder am Ende der Talfahrt zum Beispiel im Bahnhof Erstfeld. Dort gab die Maschine einen etwas komischen Geruch von sich, und es stieg Rauch auf.

Doch beim nächsten Halt war davon nichts mehr zu bemerken. Nur die Aktion führte auch zu nicht so astreinen Ideen. So kam oft der Gedanke hoch, wie mehr wir die Lokomotive misshandelten, desto zäher hält sie sich am Gotthard. Denn der Grundgedanke hatte wohl jeder im Hinterkopf, wenn die Lokomotive defekt geht, kommt ein moderner RBDe 4/4 - oder RBe 4/4 Pendelzug. Beides war ein Traum für jeden, der seine Fahrschule auf Regionalzügen am Gotthard absolvieren durfte.

Bei Regen kam dieser Gedanke besonders hoch, wenn bei einer Geschwindigkeit von 125 km/h der Scheibenwischer rund 5 cm ausserhalb der Scheibe wischte, und die Fahrt zum Blindflug wurde. Die Hilfe des Lokführers nebenan konnte man auch nicht beanspruchen, denn dessen Scheibenwischer hatte noch mehr Abstand zur Scheibe. Die verschwommenen Punkte, die an der Lokomotive vorbei flogen, mussten wohl Signale sein.

Da sehnte man sich nach einem übersichtlicheren Führerstand, bei dem man nicht den ganzen Tag Gymnastik machen musste um die Signale zu sehen. All das hatten ich und meine Kollegen aber nicht, denn wir lernten unseren Fahrstil auf Pendelzügen mit Re 4/4 I. Das führt automatisch dazu, dass man die Halte etwas defensiver anging und sich immer irgendwie daran erinnerte, dass es doch etwas schneller gehen könnte. Nur, die Re 4/4 I liess das schlicht nicht zu.

Die heutigen Fahrzeiten wären trotz der spurtstarken Maschine nicht mehr einzuhalten, da die modernen Züge besser wirkende elektrische Bremsen haben und somit später mit dem Bremsen beginnen können. Der Versuch dies mit der Re 4/4 I und dem Pendelzug zu bewerkstelligen endete oft darin, dass die Reisenden etwas dem Zug nachlaufen mussten, oder die Taschen wieder abstellten, da sie meinten der Zug fahre durch. Bei einem FLIRT überlegt man sich beim Bremspunkt der Re 4/4 I ob man wirklich schon bremsen will. Die Antwort ist dann „NEIN“!!!

Da in der Schweiz bei Pendelzügen die Beleuchtung und die Steuerung der Türen dem Lokführer übertragen wurde, besassen die Re 4/4 I eine Kontrolllampe im Führerstand auf der eine offene Türe erkannt werden konnte. Bei starkem Gegenwind – zum Beispiel Fönsturm – begann bei voller Fahrt die Lampe oft zu blinken. Heute würde wohl jeder Lokführer in dieser Situation sofort anhalten.

Bei der Re 4/4 I nahm man das etwas lockerer und fuhr drauflos. Es sei denn, man war gerade losgefahren. Dann blickte man zurück um auch sicher zu sein, dass der Zugführer sich nicht im Surfen mit dem Regionalzug bemühte. Tat er das nicht, war alles in Ordnung und man fuhr mit blinkender Verriegelungstaste. Keine Angst, die Taste, die normal leuchtet, blinkte in diesem Fall auf der Re 4/4 I wirklich. Aber das war so in Ordnung.

Ein besonderer Genuss war am Ende des Tages, wenn man den Maschinenraum betreten musste. Für weisse Hemden wäre dies der sichere Tod gewesen, denn die Lokomotiven waren im Maschinenraum recht schmutzig um nicht zu sagen saumässig dreckig. Einen leichten Überdruck, wie dies heute Standard ist, hatte die Re 4/4 I noch nicht. So wurde, wenn die Maschine den Zug schob, der Bremsstaub in den Maschinenraum gesogen, denn Filtermatten gab es natürlich auch nicht.

Besonders interessant waren die Begegnungen mit den Lokomotiven der zweiten Serie. Zwar sahen wir diese Lokomotiven in Basel immer wieder, doch in unserer Gegend hatte die Maschine schlicht nichts verloren. So lernte ich natürlich auch nicht, wie sich diese Lokomotiven von unserer Re 4/4 I unterschieden. Eine Re 4/4 I ist eine Re 4/4 I das war zumindest in Erstfeld sonnenklar. Niemand hätte uns auch nur ansatzweise erklärt, dass das nicht so ist.

Plötzlich und unerwartet hatte sich eine solche Maschine nach Erstfeld verfahren und stand nun vor dem Depot. Der Anstrich in den TEE-Farben fiel natürlich auf. Die Lokomotive sollte dann aber das Depot wieder verlassen und wurde einem Kollegen von Erstfeld zur Vorbereitung zugeteilt. Damals durchaus üblich und nicht immer ohne Tücken, wie wir gleich erfahren werden. Doch noch war die Welt in Erstfeld in Ordnung.

Dieser Kollege bestieg die Lokomotive mit leichtem murren und suchte die Hauptluftbehälterhahnen. Nichts, rein gar nichts ging und aus der Lokomotive war nur ein leises Fluchen zu hören, aber die Maschine blieb ruhig. Mit der Zeit wurde es lauter und man hörte die schimpfenden Worte deutlich neben der Re 4/4 I. Letztlich erschien ein verzweifelter Lokführer im Führerstand und musste bemitleidet werden.

Hilfsbereit wie wir waren, ging es nichts wie auf die Lokomotive. Drei Lokführer sehen mehr als einer und irgendwann wird im Dreck ja das Gesuchte schon zu finden sein. Nichts, rein gar nichts ging. Wir brachten die Lokomotive einfach nicht zum Leben, denn es gab keine Hauptluftbehälterhahnen. Ein Störungsbuch musste her, nur dort war keine Hilfe zu finden. Die Anweisungen über einen defekten Hauptschalter oder Fahrmotor halfen nicht, wir brauchten so etwas banales, wie das Einschalten einer Lokomotive, die man gemäss dem Papier kennt.

Bis dann ein höhnisch lachender Kollege aus Basel kam, um die Lokomotive lief und die Hauptluftbehälterhahnen öffnete. Hä, wo sind die, war der Blick aus der Lokomotive. Das Grinsen stand dem Kollegen aus Basel auf dem Gesicht. Er meinte nur, ob denn das bei unseren Re 4/4 I nicht auch so sei? Hmm, nein, denn dann hätten wir sie ja gefunden und die Lokomotive wäre fahrbereit. So blöd sind auch wir Lokführer in Erstfeld nicht.

Seither wissen vermutlich genau drei Lokführer des Depots Erstfeld, wo die Hauptluftbehälterhahnen der Lokomotive ohne elektrische Bremse zu finden sind. Es versteht sich von selber, dass der Lokführer von Basel spöttisch lachte und meinte, was wir denn für Lokführer seien. Lokführer, die mit der Re 4/4 I den Gotthard hoch und runter fuhren, die Lokomotive bis ans Limit beanspruchten, nur nie eine Maschine der zweiten Serie von innen sahen.

 

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